Autor: Beat Jäggi

Harris Hill - auf dem heiligen Berg der Segelflieger

Wer denkt denn hier an die Wasserkuppe? Die US-amerikanischen Segelflieger haben ihren eigenen heiligen Berg – eben Harris Hill bei Elmira, NY. Und ebenso wie auf der Wasserkuppe befinden sich heute auch auf Harris Hill ein aktiver Segelflugplatz und ein Segelflugmuseum. Ein richtiges Segel­flugmuseum, nicht ein Technikmuseum mit einem Segelflugzeug in der dunkelsten Ecke der Ausstel­lungshalle.

Schon seit vielen Jahren hatte ich mir vorgenommen, einmal „wenn es passt“ das National Soaring Museum in Elmira zu besuchen. Und endlich, im September 2018 hat es gepasst.

Stadtrundfahrt in Elmira

Elmira ist eine Stadt mit rund 30‘000 Einwohnern im Süden des US-Bundesstaats New York. Wikipe­dia weiss über Elmira weiter auch zu berichten, dass sich hier das National Soaring Museum befindet. Nicht aber, dass sich dort auch die Segelflugzeugwerke der Schweizer Brothers befanden und auch nicht, dass der Schriftsteller Mark Twain auf dem Friedhof von Elmira begraben liegt.

Eine Stadtrundfahrt in Elmira, z.B. auf der Suche nach einem Motel, hinterlässt gemischte Gefühle. An der Peripherie typisch amerikanische Provinz mit Autobahn und Malls, im Zentrum viele schöne Gebäude im „Victorian“ Baustil und gefühlt an jeder Strassenecke eine Kirche. Und dazwischen di­verse Zeugen der einstigen industriellen Bedeutung der Region. Auch das ist Elmira: Sehr viele leer stehende Gebäude auch im Zentrum zeugen vom Niedergang des industriellen Amerika über die letz­ten Jahre und Jahrzehnte. Ach ja – Nachtessen in Charly’s Bar an der Hofmann Street: Ein echt anti­kes, sehr sehenswertes Interieur, sehr gutes und viel zu reichliches Essen und eine aufmerksame, supernette Bedienung. Übrigens, Stundenlohn ohne Trinkgelder $ 7.95, Mindestlohndiskussion hin oder her.

Und auch das ist typisch amerikanische Provinz: Spätestens um halb neun Uhr abends ist das Nacht­leben beendet und die ganze Stadt geht schlafen. Nach dieser Zeit sind in der Stadt nur noch Ob­dachlose und Drogendealer zu Fuss unterwegs.

Harris Hill

Aber nun genug aus der Kulturabteilung, ab auf den Harris Hill! Der Hill ist ein auf allen Seiten frei­stehender Hügel. Die Hänge steil, zum grossen Teil bewaldet und oben eine mit Gras bewachsene Hochebene. Man kann sich gut vorstellen, weshalb die Segelflugpioniere in den 1920er und 1930er Jahren den Harris Hill für ihre tollkühnen Versuche auswählten. Tatsächlich war Harris Hill das erste Zentrum des Segelflugs in den USA und die US-amerikanischen Segelflugmeisterschaften wurden von 1930 bis 1946 immer dort ausgetragen.

Heute befindet sich auf Harris Hill ein Segelflugplatz mit einer weitläufigen Gras-, sowie einer Hart­belagpiste, einem Hangar mit einer Kollektion von Schulsegelflugzeugen, diversen Nebengebäuden und eben, dem seit den 1970er Jahren auf­gebauten National Soaring Museum.

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Das Informationsschild auf Harris Hill. Spectators welcome!

Im Museum

Der erste Eindruck: Die Amerikaner wissen einfach, wie man Museen gestalten muss! Das gilt auch hier.

Vom Eingang gelangt man in eine Eingangshalle mit einer Galerie, wo man direkt vor Hawley Bowlus‘ wunderschönem, ganz mit Mahagoniholz beplanktem „Senior Albatros“ steht und die Main Exhibit Hall überblicken kann. Ein perfekter Einstieg.

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Ein prächtiges Möbelstück, der Senior Albatross von Hawley Bowlus

Der Weg in Richtung Ausstellungshalle führte uns aber zuerst in die Restaurationswerkstatt. Dort fanden wir eine intakte, montierte Schweizer 1-26 vor. Genauer gesagt, nicht irgendeine, sondern die vierhundertste und allerletzte gebaute. In Einzelteile zerlegt war dagegen die teilweise restaurierte Briegleb BG-9, ein Vertreter der sehr amerikanischen Gattung der Utility-Glider. Dies sind sehr ein­fache Schul- und Trainingsflugzeuge, grosszügig abgestrebte Hochdecker mit voluminösem Stahlrohr­rumpf und einem Rechteckflügel von rund 10 – 11 m Spannweite. Um des Vergleiches willen könnte man sie als übergewichtige Verwandte des Spalinger Stahlrohrrumpf-Kranichs bezeichnen. Diese Flugzeuge sind weder elegant noch leistungsfähig, aber robust. Und sie waren auf die Bedürfnisse der Segelflugschulung in den USA zugeschnitten – oftmals mit Autoschlepp von „Dirt Roads“ irgendwo in der Pampa.

In der Ausstellungshalle

Wer nach diesen ersten amerikanischen Segelflugzeugen bereits den Kulturschock in den Knochen spürt, kann sich in der grossen Ausstellungshalle beim Anblick einiger deutscher Flugzeuge erholen. Diese sind mit Wolf, Minimoa, Meise oder Ka-6E recht gut vertreten. Meine persönlichen Favoriten unter den deutschen Segelflugzeugen in Elmira sind allerdings neuer und – oh Schreck – aus Kunst­stoff: Die Klappen-Libelle H301 und die BS-1.

Aber eigentlich besucht man das Museum in Elmira ja, um amerikanische Segelflugzeuge zu sehen. Als Vertreter der ganz frühen Segelfluggeschichte finden sich 1:1 Nachbauten von Chanute- und Wright-Gleitern in der Halle. Daneben aber stehen und hängen Dutzende von Originalflugzeugen, darunter wahre Ikonen der Segelflugbewegung!

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In der Main Exhibit Hall

Als Beispiel sind die Mahagoni-Kunstwerke aus der Werkstatt von Hawley Bowlus mit “Senior Alba­tross“ (richtig, mit zwei „s“), „Baby Albatross“ und „BA-102 Two–Place Baby Albatross“ gleich mehr­fach in der Haupthalle vertreten. Weiter finden sich Schul- und Trainingsflugzeuge wie der „Franklin“ Utility Glider oder der Laister-Kauffman LK-10 (berühmt auch vom Sierra Wave Project) und zahl­reiche weitere Flugzeuge aus den 1930er bis 1970er Jahren.

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Bowlus Baby Albatross – auch ich bin ein treues Mitglied seines Fanclubs!

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Keine Angst vor Patriotismus, das Seitenruder des Two–Place Baby Albatross

Mein persönlicher Favorit ist neben den Bowlus-Flugzeugen aber die Ross-Johnson RJ-5, das erste Segelflugzeug, das eine Gleitzahl von 40 erreichte. Interessant und aus meiner Sicht verdienstvoll, dass die RJ-5 nicht als perfekt herausgeputztes Schmucktruckli in der Halle hängt. Man sieht ihr an, dass sie während ihrer ganzen aktiven Zeit ständig verbessert, modifiziert und wohl auch etwas ver­bastelt wurde: Mattgrau lackierte Oberflächen neben poliertem Mahagoniholz, blau lackierte Metallbeplankung, Stoffbespannung in Baumwolle nature – alles gleichzeitig am selben Flugzeug und ohne Stilberatung zusammengemixt.

Bild6Ross-Johnson RJ-5, der „Mahagoni-Bomber“ der Segelflug WM 1952

In einer kleineren Halle stehen die berühmte Orlik II auf der Paul Mc Cready gross wurde, und die Ross R-1 Zanonia. Zwei weitere wahre Kultobjekte – diese aber perfekt herausgeputzt, eine wahre Augenweide! Darüber hängen Vertreter aus der Übergangszeit in die „klassische Moderne“ des Se­gelfluges. Neben der schon erwähnten H301 die HP-18 von Dick Schreder, für mich das schönste je gebaute Blechsegelflugzeug, sowie leider etwas versteckt, die Laister Nugget, ein weiteres Metall­flugzeug, das eine Zeitlang den damaligen Kunststoffflugzeugen Konkurrenz machte.

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Zwei Schmuckstücke in rot-weiss: Ross R-1 Zanonia und Orlik

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Dick Schreders Meisterwerk, die HP-18

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Modern Times: Marske Genesis1, Libelle H301 und HP-18

Schweizer Aircraft Corporation

Eine ganze Halle ist den Flugzeugen der Schweizer Aircraft Corporation gewidmet. Klar, Paul A. Schweizer war ja massgeblich an der Gründung und Finanzierung des Museums beteiligt – und wer zahlt, befiehlt. Aber es gibt weitere sehr gute Gründe für die „Schweizer“-Halle. Dazu gehört nicht zuletzt die Tatsache, dass „Schweizer“ seit den frühen 1930er Jahren in Elmira beheimatet ist und immer dort produzierte.

Zugegeben, die Flugzeuge von Schweizer gehörten mit ganz wenigen Ausnahmen nie zu den lei­stungsfähigsten oder schönsten Segelflugzeugen ihrer Zeit – der Fokus lag bei diesen Seglern fast immer auf einfach, zweckmässig und preisgünstig. Aber trotzdem oder gerade deswegen kann die Bedeutung von Schweizer für den Segelflug in den USA gar nicht überschätzt werden – immerhin baute Schweizer zwischen 1930 und 1982 rund die Hälfte aller je in den USA produzierter Segel­flugzeuge.

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Die „Schweizer“-Halle mit der wunderschön restaurierten SGU 1-7 von 1937

1982 kam dann das Ende der Segelflugzeugproduktion bei Schweizer. Die Zeit der Blech-Segelflieger war ganz einfach abgelaufen. Aber das war nicht das Ende des Flugzeugbaus. Ab den frühen 1980er Jahren wurden für Hughes Helikopter gebaut und heute ist Schweizer ein Pro­duktionsstandort von Sikorsky.

Verborgene Schätze

Auf der Website des Museums findet man eine Liste der Segelflugzeugsammlung des Museums. Auffällig und typisch für derartige Museen: Es kann nur ein kleiner Teil der Sammlung gezeigt wer­den. Hier nur eine kleine, +/- chronologische Auswahl von nicht-gezeigten, eingelagerten Flugzeugen, die unbedingt auf meine Favoritenliste gehören würden:

Die Culver Rigid-Midget, ein Kleinsegler mit rund 11 m Spannweite, der bei den richtigen Wetterbe­dingungen den „grossen“ zeigte, was schneller Streckenflug ist. Dann die Ross R-6 als Zweisitzer, der an die Leistungen des grossartigen Mahagoni-Bombers RJ-5 anknüpfte. Oder die Niemi Sisu 1-A, das Flugzeug, mit der der erste Streckenflug über 1000 km gelang. Weiter eine ganze Reihe von Dick Schreders Konstruktionen (HP-8, 10, 11, 16), die mit ihrer einfachen Metallbauweise und ihren Le­istungen allesamt einen Preis für effiziente Konstruktion verdienen würden. Und zuletzt natürlich die Berkshire Concept 70 als erstes in den USA in (kleiner) Serie gebautes Kunststoffflugzeug.

Und jetzt, sehenswert?

Ja, unbedingt!

Aber für meinen nächsten Besuch werde ich am Timing arbeiten: Der Segelflugplatz auf dem Harris Hall ist regelmässig Austragungsort des International Vintage Sailplane Meet, also des amerikanischen Pendants zu den Rallies des Vintage Glider Club. Denn – historische Segel­flugzeuge im Museum sind schön, aber in der Luft sind sie noch viel schöner!

Und, jetzt, da ich Harris Hill kenne, könnte ich ja durchaus auch einmal einen Ausflug auf die Wasser­kuppe ins Auge fassen. Einfach so, zum vergleichen!